Die ganzheitliche Perspektive auf Mental Health wird in Zukunft entscheidend - Im Gespräch mit Ralph Steuernagel
Burnout als Volkskrankheit, steigende Zahlen psychisch bedingter Arbeitsausfälle: Es gibt immer mehr Menschen, die unter den modernen Dauerbelastungen in Arbeit und Alltag leiden. Das Thema psychische Gesundheit rückt zunehmend in den Fokus. Aber was bedeutet das eigentlich? Was kann man tun. Und wie lässt sich Mental Health noch mehr auch in Unternehmens- und Arbeitskontexte bringen?
Wir haben mit Ralph Steuernagel gesprochen. Er ist Visionär, Vordenker und Lehrer. Er verbindet traditionelle medizinische Systeme mit modernen wissenschaftlichen Erkenntnissen und der achtsamkeitsbasierten Psychotherapie. Seine große Leidenschaft ist es, seinen Schüler:innen und Patient:innen ein ganzheitliches Verständnis von körperlicher und mentaler Gesundheit zu vermitteln und sie dazu zu befähigen, dieses in ihrem Alltag auch anzuwenden.
Mental Health ist mehrdimensional
Gleich zu Beginn des Gesprächs betont Ralph Steuernagel, dass der Begriff Mental Health nicht eindimensional zu begreifen ist. Und: Hier hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten einiges getan. »Als ich Ende der 1990er Jahre als Therapeut meine Praxis eröffnete, war der medizinische Blick vor allem auf das körperliche Wohlbefinden gerichtet. Das hat sich seitdem geändert. Ich verstehe den Begriff als mehrdimensional. Ich meine, es gibt drei Perspektiven, aus denen man das Thema Mental Health betrachten kann. Das eine ist die klinische Perspektive. Wenn etwa Patient:innen mit Angststörungen zu mir kommen, und sich durch die Therapie eine Besserung ihrer Symptome erhoffen – also weniger Angst zu haben etwa.« Diese Perspektive fokussiert also vor allem auf eine Symptombehandlung. Das greife, so Steuernagel, vielfach zu kurz. »Deshalb gibt es aus meiner Sicht eine zweite, weitere Perspektive – die ganzheitliche. In der geht es um mehr als nur Symptomlinderung. Mental Health wird hier verstanden als die Fähigkeit, ein selbstbestimmtes Leben in Einklang mit meinen Werten zu führen. Sinnerfüllung und Glück spielen hier eine große Rolle.« Zusätzlich sieht er außerdem noch eine dritte Perspektive. »Die nenne ich die spirituelle Perspektive. Darin werden übergeordnete Fragestellungen mit eingebaut wie ´Wer bin ich eigentlich?` und ´Warum bin ich hier?`.« Interessant sei, so Steuernagel, dass die ganzheitliche sowie die spirituelle Perspektive in den letzten Jahren immer bedeutsamer werden.
In Kontakt sein – Die ACT
Seit den 2000er Jahren kommen immer mehr Menschen in seine Praxis, die weniger mit körperlichen Herausforderungen zu kämpfen hatten als vielmehr mit mentalen. Die herkömmlichen Herangehensweisen der Psychotherapie waren Steuernagel im Umgang mit seinen Patient:innen aber nicht umfassend genug. Deswegen lenkte er den Blick auf die ganzheitliche Medizin, die davon ausgeht, dass Körper und Geist eine untrennbare Einheit sind. »2015 habe ich dann den Ansatz gefunden, der meine Arbeit seitdem ganz zentral prägt – die ACT.« Die Acceptance Commitment Therapy. »Deren Kerngedanke ist es, psychische Flexibilität zu fördern. Das bedeutet, dass wir im Stande sind, in einem gegenwärtigen Moment miteinander in Kontakt zu treten, ohne Abwehr- oder Vermeidungsverhalten.« Steuernagel meint, wir alle haben oft die Tendenz, unser Leben »vorzuchoreographieren«, also vorzuplanen – uns zu überlegen, was wäre wenn, was könnte kommen.
Akzeptanz – Werteorientierung – Handeln
Das Problem: Je mehr wir uns an dieses »Skript« halten, desto unflexibler und starrer wird das Ganze. Deswegen ist die Akzeptanz ein zentraler Punkt bei der ACT: »Dinge, die wir nicht direkt verändern können, anzunehmen ist eine wichtige Fähigkeit bei diesem Ansatz.« Ansonsten drohe eine konstante Spannung in uns, aus der diverse Probleme entstehen können. Wichtig ist außerdem die Gegenwärtigkeit: »Dass wir wirklich im jetzigen Moment miteinander sind – und bei uns.« Und ein weiterer wichtiger Punkt: »Unsere Werte. Also sich die Frage zu stellen, was uns wirklich wichtig ist im Leben und wofür unser Leben eigentlich stehen soll.« Eine gewisse Werteklarheit zu entwickeln, ist ein genuiner Teil in der ACT. Und: »Das Handeln ist ganz zentral. Es geht nicht darum, über diese Dinge nur zu philosophieren, sondern wirklich in ein Handeln zu kommen. Sich hier zu committen.« Im wahrsten Sinne des Namens der Therapie. Das Ziel: »Ein Verhalten im Alltag zu pflegen, das mit meinen Werten im Einklang steht. Um ein entwicklungsreiches, sinnerfülltes Leben zu führen.«
Mut zur Entwicklung und für neue Wege
Ein Ansatz, der gerade immer wichtiger wird. Auch und gerade in Unternehmenskontexten, in denen die Prozesse immer schneller werden und in Arbeitskontexten, die von Unsicherheiten und bislang ungekannten Herausforderungen erschüttert werden. »Wir haben lange in einer Blase gelebt. Diese scheinbare Sicherheit, die wir seit Jahrzehnten erlangt haben, ist jetzt an einem Ende. Hier braucht es Mut zur Entwicklung und neue Wege. Und vor allem: Wir können inmitten unserer Ängste und Unsicherheiten doch handlungsfähig bleiben.«
»Für Unternehmenskontexte finde ich es besonders wichtig, dass Mitarbeitende mehr Autonomie, also Selbstbestimmtheit, entwickeln. Denn diese ist maßgeblich für psychische Gesundheit. Das bedeutet auch, für die eigenen Werte einzustehen. Langfristig führt das zu viel mehr Klarheit und auch zu Erfolg.«
Für Ralph Steuernagel sollten Coachings auch hier ansetzen: »Viele stellen sich das ja so vor, dass man in so ein Coaching geht, um von Power-Menschen zu lernen, wie man auch so ein Power-Mensch wird. Wie man sich quasi aufladen kann. Aber eigentlich geht es erstmal darum, unsere Verletzlichkeit wieder zuzulassen. Unsere Schwächen und Ängste verorten zu können und diesen mit einem Selbstmitgefühl zu begegnen. Das ist ja auch die Grundlage von Akzeptanz.« Und die Basis für Mental Health, die wirklich tragfähig ist. Das ist die Aufgabe und Herausforderung »für Unternehmen, Arbeitnehmer:innen wie auch für Selbstständige in den nächsten Jahren«. Denn: Mental Health wird zunehmend wichtiger – gerade in Krisenzeiten und Umbrüchen, wie wir sie derzeit erleben und wohl auch zukünftig erleben werden.
Das gesamte Gespräch findest Du hier als Video: Gesund und erfolgreich in Krisenzeiten
Mehr Infos: https://www.eurasiamed.de/